Textatelier
BLOG vom: 22.03.2006

Stehlen ist keine Tugend, die Schamlosigkeit aber schon

Autorin: Rita Lorenzetti
 
Diebstähle häufen sich, obwohl immer wieder darauf hingewiesen und zur Vorsicht gemahnt wird. Manchmal betreffen sie einen selbst oder Menschen, die einem nahe stehen.
 
In Rom wurde ich einmal in einem Bus bestohlen. Beim Aussteigen bemerkte ich es und fühlte, wie ich, wie aus einer unsichtbaren Halterung heraus, in die Tiefe fallen gelassen wurde. Noch heute kann ich daran denken und es wieder erleben, dieses Aussteigen und nicht auf dem Boden ankommen, obwohl ich dann doch auf der Strasse stand. Bin ich damals vielleicht hypnotisiert worden?
 
Gestern nun war meine über 80-jährige Nachbarin ein solches Opfer. Die Methode aber eine andere. N. war am Einkaufen im Lebensmittel-Geschäft und wurde in ein verwirrendes Gespräch mit einer ausländischen und schlecht deutsch sprechenden Frau verwickelt. Sie wurde um eine Erläuterung eines Textes auf einer Waschmittel-Packung gebeten und so geschickt abgelenkt, dass ihr ein Begleiter problemlos das Portemonnaie aus der Tasche ziehen konnte. An der Kasse, als das Malheur dann publik wurde, konnte eine andere Kundin bestätigen, dass auch sie um Hilfe angegangen worden sei. Sie habe diese Frau aber einfach ignoriert.
 
Ein anderer Fall betrifft meinen Mann. Nachdem er das Portemonnaie an seinem Arbeitsplatz in einer Messehalle hatte liegen lassen, meldete sich einen Monat später die Polizei. Es sei in ihrem Briefkasten gelandet. Die Banknoten entwendet, Kleingeld und Ausweiskarten noch da. Wenigstens das. Ich konnte das Portemonnaie dann abholen und kam mit der diensttuenden Polizistin ins Gespräch. Natürlich waren Diebstähle unser Thema. Sie bestätigte mir, dass diese zugenommen hätten.
 
Ich wolle mich ausdrücklich weder als brav noch als edel darstellen, müsse aber doch sagen, dass ich kein Verständnis für Diebstähle habe. Da müsste ich dann schon in sehr, sehr auswegloser Situation stecken, bis ich einen Fundgegenstand einfach an mich nähme. Die spontane Antwort dieser Polizistin lautete: „Es geht eben vielen Leuten heute sehr schlecht.“
 
Und weiter erfuhr ich, dass sie kürzlich im Kreis von Freunden die Frage aufgeworfen habe, was sie machen würden, wenn sie auf einem Spaziergang im Wald eine Tausendernote fänden. Mehr als die Hälfte der Befragten gaben unumwunden zu, sie würden sie behalten.
 
Heute ist Schamlosigkeit eine Tugend. Ich frage mich, was dieselben Menschen, die stehlen und abzocken empfinden, wenn die Rollen vertauscht und sie diejenigen sind, die betrogen werden? Da gibt es dann sicher ein grosses Hallo.
 
Wo steuern wir hin, wenn Diebstähle und Kriminalität ständig zunehmen? Es ist wirklich Zeit, dass sich neue Standards, die das Zusammenleben regeln, einbürgern. Es könnten auch alte Regeln entstaubt und mit neuem Leben gefüllt werden.
 
Dank Hans Küng, der den Dialog mit den Kulturen belebt, steht die „Goldene Regel“, die vielen Kulturen eigen ist, wieder öfters im Blickpunkt. „Was du nicht willst, was man dir antut, das füge auch keinem anderen zu.“
 
Mich stört es enorm, dass wir z. B. an touristischen Orten immer auch noch auf uns selbst aufpassen müssen und nicht mehr nur dastehen und staunen dürfen. Tue ich das, besteht die Gefahr, dass ich als ein mögliches Opfer wahrgenommen werde, bei dem es etwas zu holen gibt. Da bleibe ich dann, ehrlich gesagt, lieber zu Hause.
 
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